Jeden Tag in der Vorweihnachtszeit (1. bis 24.12.2023)
veröffentlichen wir hier auf dieser Homepage und bei Facebook eine Weihnachtsgeschichte.
Die nachfolgende Geschichte wurde anlässlich eines Kurzgeschichten-Wettbewerbs des NOEL-Verlages im Jahr 2019 im Siegerbuch veröffentlicht.
Der Weihnachtswolf
Kerstin Brichzin
Luftig leicht türmt sich frischer Pulverschnee auf Tannen, Kiefern und auf den Ästen knorriger Eichen. Die Strahlen der Wintersonne blitzen zwischen den Bäumen hindurch und lassen den Waldboden glitzern.
Helen kneift die Augen zusammen und bleibt stehen. Ihre Atemwolken ziehen ein Stück in Richtung Blau des Himmels, bevor sie sich auflösen. Ihr Blick fällt auf die Kiste mit den Kastanien, das Bündel Heu und den Sack Vogelfutter auf dem Schlitten. Sie schlägt ihre Handschuhhände aneinander und haucht in den plüschumrandeten Stoff.
Schöner kann Weihnachten nicht sein, denkt sie und freut sich auf die kommenden Tage.
Lange schon hat sie nichts gefressen, sie hat die Zeit gebraucht, um die Wunde am Vorderlauf zu lecken. Nun kann sie nicht mehr warten. Langsam kriecht sie unter den tief hängenden Tannenzweigen hervor. Schnee fällt auf ihr dichtes Winterfell, das sie dicker und größer erscheinen lässt. Die Wölfin hebt ihre Nase in den eisigen Wind.
Der Wald schweigt, alles Leben scheint eingefroren zu sein. Doch ab und zu knackt ein Zweig in den Gipfeln der Bäume oder Schnee rieselt herab, wenn ein Eichhörnchen zu einem seiner Herbstverstecke springt oder sich ein Vogel von einem Zweig in die Luft erhebt.
Helen zieht am Lederriemen des Schlittens. Gleich wird sie die Lichtung sehen, nur noch der Hügel.
Die Wölfin weiß, wo sie finden kann, was ihr Bedürfnis stillt, inzwischen kennt sie sich aus. Alle haben das gleiche Ziel. Wenn sie satt sind, werden sie unvorsichtig sein. Dann wird sie etwas reißen können, nur dann. Sie riecht ihre Angst, ihren Schweiß.
Sie rümpft die Nase, fletscht die Zähne. Ein Zittern befällt ihren Körper, lässt sie kurz wanken. Da ist ein Geruch, den sie kennt. Sie muss auf der Hut sein.
Geräuschlos setzt die Wölfin ihre Spuren.
Endlich! Helen schiebt den Schlitten neben die Futterstelle. Schneewolken stieben auf, als sie mit dem Handfeger Futterreste aus den hölzernen Trögen fegt. Mit dem Taschenmesser schneidet sie den Heuballen auf und verteilt ihn in der Krippe. Ihre Augen suchen im Wald. Wie gerne möchte sie die Rehe sehen, wenn sie das duftende Heu aus der Raufe ziehen. Doch nicht heute.
Mach nicht zu viele Spuren, hat Thomas zu ihr gesagt.
Da knackt es im Unterholz. Helen zuckt zusammen. Langsam dreht sie sich um.
Mit gesenktem Kopf tänzelt die Wölfin über die gelben Spritzflecke im Schnee, nimmt deren Geruch in sich auf. Speichel sammelt sich im Maul. Doch das Wild, das sie erkennt, ist zu kräftig, zu gesund für sie allein. Die Unruhe treibt sie weiter, sie kann ihr Ziel bereits sehen.
Der Hirsch mit dem abgebrochenen Geweih! Thomas hat ihr von diesem Prachtexemplar erzählt. Sie zerrt den leeren Schlitten zurück in die alte Spur und zieht an. Nach wenigen Metern schon dreht sie sich um.
Der Hirsch steht jetzt am Waldrand. Unablässig äugt er zu ihr herüber, sein Atem dampft.
Helen lächelt. Nur Mut, du Schöner. Ihre Blicke huschen umher. Kommen noch mehr? Zwischen den Bäumen entdeckt sie einen Holzstoß, gestapelt vor langer Zeit. Sie schaut an die Uhr. Ein wenig Zeit bleibt ihr noch. Helen lässt den Riemen des Schlittens fallen und stapft durch den knietiefen Schnee.
Neben einem Busch bleibt die Wölfin stehen und beobachtet den Hirsch, der den Kopf hebt und wittert. Da entdeckt sie den Menschen, der diesen Geruch verströmt, der sie zittern lässt. Doch er ist anders, feiner und süßlicher, als der, den sie kennt. Ihre Schultern spannen sich, ihre Sinne sind gerichtet. Sie darf nicht fliehen. Sie muss fressen.
Helen schaut zwischen den Baumstämmen hindurch, sucht den Hirsch, als ein metallenes Schnappen und ein Klirren die Stille zerbricht. Mit ihrem Schrei stürmt der Schmerz im Bein hinauf, lähmt ihr Gehirn. Weiße Blitze zucken hinter ihren Lidern. Etwas hat sich in ihren rechten Fuß gebohrt. Ohnmächtig kippt Helen zur Seite.
Meter um Meter nähert sich die Wölfin dem gestapelten Holz. Ihre Läufe zittern. Der süße Duft von Eisen und Blut zieht sie an. Vertraute Bilder platzen auf, drängen ans Licht mit voller Wucht: Sie sieht den Gefährten, der mit ihr durch den Schnee tobt, riecht seinen Atem dicht neben ihrem Gesicht. Wieder dieses metallische Klicken, das Krachen, seinen spitzen Schrei. Sie sieht die Verzweiflung, als er versucht, zu entkommen.
Noch einmal hört sie die Männer auf ihren Maschinen, und dann den Knall …
Fiepend beginnt die Wölfin über die Wunde am Fuß des Menschen zu lecken, wie sie es bei ihrem Gefährten getan hat.
Helen spürt etwas Nasses, Raues über ihr Gesicht gleiten. Jeder Versuch, ihre Lage zu verändern, versinkt im Schmerz. Stöhnend lehnt sie schließlich am Stamm einer Kiefer.
Die Wölfin ist zurückgewichen, fletscht lautlos die Zähne.
Helen zittert, jeder Atemzug sticht. Da sieht sie im Dämmerlicht des Tages einen Schatten. „Hey, Hund, wo ist dein Herrchen?“ Ihre Stimme klingt gequält. „Hallo? Ist hier jemand? Bitte helfen Sie mir!“ Helen lauscht.
Die Wölfin weicht weiter zurück, senkt den Kopf und knurrt. Ihre Muskeln sind gespannt.
Helen zieht ihre Handschuhe aus. Sie hält die Luft an und tastet über ihren Schuh. Ihre Finger finden Zähne aus Metall. Sie schluckt den Schrei, Übelkeit nimmt ihr die Luft. Stöhnend sinkt sie zurück an den Stamm.
Ihre Gedanken rasen. Thomas! Sie klopft ihre Jackentaschen ab. Irgendwann hält sie inne, als sie es begreift; das Handy liegt im Rucksack, ausgerechnet jetzt.
Sie presst die Lippen zusammen, dreht sich langsam auf die Seite und schiebt sich über den zerwühlten Schnee. Glied für Glied lässt sie die Kette durch ihre Hände gleiten.
Versteckt unter abgeschnittenen Tannenzweigen findet sie den Anker im gefrorenen Boden. Sie schaut hinüber zu dem Schatten, der regungslos steht. Mit bloßen Fingern fängt sie an zu graben.
Bald schüttelt sie ihre Hände, hält sich die Fingerkuppen an die Wangen, wiegt sich vor und zurück. Die Kette klirrt leise. Helen zieht den Ärmel ihrer Jacke ein Stück nach oben und drückt auf den Beleuchtungsknopf ihrer Uhr, halb fünf. Sie werden sie vermissen, doch erst gegen 18.00 Uhr.
Sie legt ihre Hände über den verletzten Fuß, fühlt die klebrige Nässe zwischen den Fingern. Stöhnend streckt sie das andere Bein.
Die Wölfin zuckt mit den Ohren, neigt den Kopf leicht zur Seite. Sie hört die Laute des Menschen, die sie nicht bedrohen.
Helen lehnt den Kopf nach hinten an den Stamm. Sie werden sie suchen, doch morgen erst. Ein Frösteln rollt über ihren Rücken, sie weiß, dass sie nicht einschlafen darf.
„Du, Hund, hörst du? Diese Nacht ist eine besondere Nacht.“ Sie schluckt. „Heilig Abend. Ich wollte mit Thomas feiern, bei seinen Eltern. Geht leider nicht. Die Arbeit, ich müsste bald anfangen. Helen lacht auf, doch ihre Augen werden feucht. Bald ziehen Tränen kalte Spuren in ihr Gesicht. „Ich feiere einfach mit dir. Frohe Weihnachten, Hund! Du bist doch ein Hund?“
Die Wölfin rückt näher an den Menschen heran. Sie lässt sich in den Schnee sinken und legt ihre Schnauze auf die Pfoten.
„Du könntest auch ein Wolf sein. Quatsch, nicht wahr?“ Helen verändert ihre Haltung, stöhnt kurz auf.
„Thomas, er ist hier Revierförster, hat mir viel von Wölfen erzählt. Er wartet auf sie, möchte sie beobachten, wenn sie hier sind.“ Sie haucht in ihre Hände. „Du frierst bestimmt nicht. In meinem Rucksack drüben auf dem Schlitten hätte ich noch einen dicken Pullover. Den kann ich jetzt brauchen.“
Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. „Ich werde dir von Heilig Abend erzählen.“ Sie hält kurz inne.
„Zum Kaffee gibt‘s Stollen, richtig guten. Omas Familienrezept. Jedes Jahr trifft sich die ganze Familie am ersten Advent zum Backen. Stollen darf man bis Ostern essen, wusstest du das?“
Sie schweigt und lauscht dem Wind, der wieder durch die Baumwipfel rauscht. „Heilig Abend liegen unter dem Tannenbaum gefühlt hundert Geschenke. Stell dir die kleine Tanne neben dir vor, geschmückt mit roten Kugeln, Kerzen und Schleifen. Oma hat früher Süßigkeiten und kleine Äpfel drangehängt. Kinderbaum hat sie dazu gesagt.“
Da zerreißt eine Melodie das Rauschen der Nacht.
Die Wölfin hebt den Kopf, ihre Augen suchen eine Bewegung, ihre Nase einen Geruch. Doch sie kann nichts entdecken. Geduckt huscht sie durch den Schnee in die Richtung, aus der das fremde Geräusch kommt.
Helen schlägt die Hände vors Gesicht. Sie rutscht seitlich in den Schnee, rollt sich zusammen, bis das Handy schweigt.
Die Wölfin hört ein Jammern, es klingt verletzt. Unruhe prickelt durch ihre Adern. Sie muss helfen. Ihr scharfer Blick sucht den Menschen am Baum, vergeblich. Sie hebt ihre Nase und heult.
„Du bist kein Hund“, flüstert Helen. Sie schließt die Augen und hört ihm zu, bis er verstummt. Da fühlt sie wieder die raue Zunge in ihrem Gesicht. Schützend hebt sie die Hände, berührt das warme Fell.
Die Wölfin springt zurück und verharrt.
Zögernd legt sie sich nieder.
Helen setzt sich auf und wischt sich mit dem Ärmel übers Gesicht. „Wir machen die Geschenke nacheinander auf. Das macht Spaß und dauert länger, beinahe den ganzen Abend.“ Ihre Gedanken fliegen ins Wohnzimmer ihrer Eltern und finden fröhliche Gesichter.
Der Mond schaut kurz durch die Wolken und gönnt Helen einen Blick. Sie sucht den Schatten am Boden, doch sie kann ihn nur erahnen.
Die Wölfin steht auf. Sie spitzt ihre Ohren und lauscht. Ihre Augen suchen den Wald nach einer Bewegung ab. Da! Ihr Rücken strafft sich. Erst langsam, dann schneller drückt sie ihre Läufe in den Schnee.
Helen atmet aus, als sie das Quieken und das Brechen der Knochen hört. Ein Schauer läuft über ihren Rücken.
Die Wölfin schmeckt das frische Blut. Sie fühlt, wie das kleine Herz aufhört zu schlagen und der Körper in ihrem Maul sich entspannt. Lautlos trägt sie den Fang zu dem Menschen.
Helen harrt auf das, was da kommt.
Als die Wölfin etwas neben sie legt, schaut sie ihr kurz in die Augen. Himmelblaues Eis.
Ihre Finger ertasten lange Ohren, fühlen nasse Wärme im Fell. „Ein Häschen“, flüstert sie, „ein Geschenk?“ Hastig atmet sie ein und aus. Die kalte Luft beißt in ihre Nasenflügel. „Ich habe wirklich Hunger, aber roher Hase? Normalerweise würde ich jetzt Linsensuppe, Bratwurst und Sauerkraut essen.“
Helen zieht den Kadaver auf ihren Schoß und streicht mit den Fingerkuppen das zerzauste Fell in eine Richtung. „Als ich klein war, sind wir am Nachmittag zum Krippenspiel in die Kirche gegangen. Einmal habe ich mitgespielt.“ Sie lacht kurz auf und beugt sich vor, in die Richtung der liegenden Wölfin: „Ich war ein Schäfchen.“
Die Wölfin hebt den Kopf, ihr Blick zielt an Helen vorbei in die Nacht. Langsam streckt sie ihren Körper nach vorn, spannt die Muskeln an und setzt sich in Bewegung.
Helen schließt die Augen, als sie das Quieken hört. Ihre Finger bohren sich tief in das Fell des noch warmen Hasen. Da hört sie das gierige Schmatzen.
Wie gut ihr das tut, das warme Fleisch und der Geschmack von Blut. Sie fühlt, wie sich die Spannung in ihrem Körper löst.
Die Wölfin frisst schnell, sie will zurück zu dem Menschen. Sie weiß von der Gefahr, die bald kommen wird. Sie liegt in der Luft, in den Wolken, die sich über ihnen auftürmen. Nur sie kann sie sehen und riechen.
Helen drückt den Beleuchtungsknopf der Uhr. „Elf, die Nacht wird lang, Heilig Abend immer. Als ich klein war, haben wir nach der Bescherung gemeinsam gesungen. Das war schön. Meine Schwester spielte Klavier, ich etwas Gitarre. Manchmal las Mama eine Geschichte vor. Paps mochte das sehr, weil Oma das so gemacht hatte.“
Sie schaut nach oben, fühlt die Kälte der Schneeflocken in ihrem Gesicht, wenn sie tauen. „Du musst mich wecken, wenn ich einschlafe, bitte.“ Sie lehnt sich zurück an den Stamm und schließt die Augen.
Die Wölfin richtet ihre Ohren aus, Richtung Mensch. Er atmet, sie kann es hören. Sein Körper liegt jetzt neben ihr im Schnee. Er zittert nicht mehr. Der Geruch, der von ihm ausgeht, verändert sich, langsam.
Fiepend rutscht die Wölfin an den Menschen heran, ihre Nase berührt das Gesicht, es ist kälter als vorhin. Sacht leckt sie es ab.
Der Wind rauscht in den Bäumen, lässt nackte Äste knirschend aneinanderreiben.
Langsam öffnet Helen die Augen, ihre Gedanken irren umher. Sie fühlt die Schwere eines Körpers, er ist warm und weich. „Die Christmette“, flüstert sie. Der Körper über ihr strafft sich. „Bleib ... bitte!“
Die Wölfin hebt den Kopf und knurrt leicht. Bald entspannt sie ihre Muskeln und legt sich zurück.
„Um Mitternacht sind wir in die Christmette gegangen ... das ganze Dorf, jedes Jahr ... Jesuskind in die Krippe gelegt. Maria ... es geboren ... überall in der Kirche ... Kerzen ... wunderschön ... singen ... mit dem Chor.“ Helen fühlt noch die Hitze, die in ihr aufsteigt und ihre Sinne vernebelt.
Bis in den Morgen hinein wacht die Wölfin über den Menschen, immer wieder leckt sie über das erstarrte Gesicht. Sie spürt den Schnee, der sich leise auf sie türmt.
Da hört sie ein Brummen. Mit steifen Läufen steht sie auf, schüttelt den Schneeberg vom Fell. Ihre Schultern versteifen sich. Sie rümpft die Nase, bleckt die Zähne und knurrt.
Ein Schneemobil quält sich durch den Schnee.
Fiepend stupst die Wölfin in das Gesicht des Menschen. Dann straffen sich ihre Muskeln. Lautlos bahnt sie sich ihren Weg.
Das Erste, was sie spürt, ist wohlige Wärme. Zögernd öffnet sie die Augen.
Ein junger Mann streicht ihr eine Locke aus der Stirn.
„Helen, endlich!“ Seine Augen werden feucht.
„Thomas.“ Helens Stimme klingt rau. „Wo?“
„Du bist im Krankenhaus, mein Schatz, seit einer Woche.“ Thomas stützt ihren Kopf und reicht ihr ein Glas.
Helen benetzt ihre Lippen, trinkt einen Schluck. Dann legt sie sich zurück.
Thomas stellt das Glas auf den Nachttisch. „Du bist nicht an dein Handy gegangen. Später hat eine Kollegin bei dir geklingelt, sie wollte nach dir sehen. Als sie mir sagte, dass der Schlitten weg wäre, bin ich sofort los.“
„Mein Fuß, und ...?“, flüstert sie und schaut auf ihre verbundenen Hände.
„Schatz, bitte, hab Geduld. Es grenzt an ein Wunder, dass du überhaupt überlebt hast.“
„Da war ein Wolf.“
„Es gibt hier noch keine Wölfe, du musst geträumt haben. Schließlich warst du halb erfroren.“
„Er hat mich gewärmt. Sogar einen Hasen hat er mir gebracht.“
„Helen, ich bitte dich, Wölfe würden das nie tun. Sie haben Angst vor Menschen. Sie fliehen, wenn sie nur in ihre Nähe kommen.“
„Er ist bei mir geblieben, die ganze Nacht.“ Sie zögert. „Der Hase, Thomas, vielleicht liegt der Hase noch da.“
„Da war keiner. Aber ... du hast einen Handschuh im Arm gehalten, wie eine Puppe.“
Helen schüttelt den Kopf. „Hab ihm von Weihnachten erzählt.“ Ihre Stimme zittert.
Thomas lächelt. „Dann war es wohl ein Weihnachtswolf.“
Er küsst ihre Stirn. „Ja, Schatz, ein Weihnachtswolf.“