Jeden Tag in der Vorweihnachtszeit (1. bis 24.12.2023)

veröffentlichen wir hier auf dieser Homepage und bei Facebook eine Weihnachtsgeschichte.

 

Die nachfolgende Geschichte wurde anlässlich eines Kurzgeschichten-Wettbewerbs des NOEL-Verlages im Jahr 2019 im Siegerbuch veröffentlicht.

 

 

 

Es ist nie zu spät

 

Anke Elsner

 

„Du hast keinen gekauft?“, ungläubig schaute sie ihren Mann an. Michael konnte ihre Verstimmung verstehen, aber wei­gerte sich, dies zuzugeben. „Meine Güte, das ist doch nicht so schlimm. Du weißt doch, was bei uns im Betrieb los ist. Es musste noch ein wichtiger Auftrag erledigt werden, und als ich endlich wegkam, hatte kein Geschäft mehr geöffnet, in dem ich einen Tannenbaum hätte besorgen können. Außerdem sind die Kinder doch schon fast erwachsen. Wir setzen uns eben ein bisschen zusammen, trinken ein Glas Wein und essen deinen lecke­ren Weihnachtsbraten …“

„Das sagst du so, aber auch bei mir ist es heute später ge­worden, und die ganze Woche gab es an der Schule nur Stress; deshalb hat das mit dem Braten leider nicht mehr geklappt. Na ja, Geschenke brauchen wir ja glücklicher­weise nicht einzupacken, die Umschläge mit dem Geld habe ich gestern schon fertiggemacht, genau wie voriges Jahr. Wir setzen uns einfach mit den Kindern an den Wohnzim­mer­tisch, essen Weihnachtsplätzen und gucken, was so im Fern­sehen läuft.“

„Hast du doch noch gebacken?“, hoffnungsvoll sah er sie an.

„Nein, du? Im Schrank liegen die Kekse aus dem Super­markt. Das reicht. Die Kinder sind eh schon zu groß für das ganze Heiligabendgetue.

Vielleicht gar nicht so schlecht, dass du keinen Baum mehr bekommen hast, jetzt reduzieren wir einfach das Fest Schritt für Schritt auf das Wesentliche – ein bisschen Extra-Geld und freie Tage.“

In dem Moment steckte ihr 14-jähriger Sohn Sven den Kopf durch die Tür: „Hallo, ich geh jetzt zu Tobias. Bin morgen Mittag zurück.“

„Halt, warte“, Karin sah erstaunt auf, „es ist doch Weih­nachten, und wir wollten Heiligabend mit dir und Sophie feiern.“

Sven verdrehte genervt die Augen. „Den Umschlag mit dem Geld könnt ihr mir auch morgen geben, und auf irgendeine blöde Fernsehshow hab ich sowieso keinen Bock. Bei Tobias wird wenigstens noch richtig Weihnach­ten gefeiert: Da steht ein Tannenbaum im Wohnzimmer, es gibt für jeden eine Überraschung, ein paar Verwandte sind da, dann wird ge­sungen und nach dem tollen Weih­nachtsessen spielen alle Monopoly bis es Zeit wird, zur Mitternachtsmesse zu fahren. Außerdem haben mich seine Eltern schon letztes Jahr eingeladen, nachdem sie gehört haben, was hier bei uns so abgeht. Tschüss zusammen!“

Kaum hatte sich die Tür hinter Sven geschlossen, wurde sie bereits wieder mit einem Ruck geöffnet. Die drei Jahre ältere Sophie trat ein, dick eingepackt in einen Mantel: „Bis mor­gen, ihr zwei. Ich fahre zu Oma, Weihnachten feiern. Die ist doch sonst ganz alleine. Sie hat übrigens gestern schon den Baum geschmückt, und als ich gerade auf dem Handy angerufen hab, stand der Braten auf dem Herd. Außerdem hat sie eine Überraschung für mich!“ Ein strah­lendes Lä­cheln erhellte das Gesicht der jungen Frau. „Ich bin so ge­spannt, was das wohl ist! Ach ja, legt mir das Geld einfach in mein Zimmer.“

Bevor noch jemand reagieren konnte, schloss sich die Tür erneut, und eine drückende Stille erfüllte den Raum. Die Eltern wagten kaum, sich anzusehen. Stumm und scho­ckiert saßen sie auf ihren Stühlen. Jeder war in seine eigenen Ge­danken versunken. „Ich glaube, hier läuft was falsch, und es ist unsere Schuld.“

Als Karin die Worte ihres Mannes hörte, schaute sie ihn an und nickte: „Du hast Recht. Es muss sich was ändern, WIR müssen uns ändern. Noch ist es nicht zu spät. Lass uns morgen Nachmittag mit den Kindern zusammensetzen und über Weihnachten sprechen.“

24. Dezember im darauffolgenden Jahr.

„Sven, Sophie, kommt ihr?“

Freudestrahlend verließen die beiden Jugendlichen ihre Zim­mer und warteten gespannt, dass die Mutter die Wohn­zimmertür öffnete. Kaum war dies geschehen, gingen sie ein wenig unsicher in den Raum: Ein reich geschmückter Tan­nen­baum verbreitete eine festliche Atmosphäre, und unter seinen Zweigen auf dem Boden lagen liebevoll ein­gepackte Geschenke. Drei bunte Teller, die vor selbstge­backe­nen Plätzchen und anderen Weihnachtsleckereien fast über­quol­len, warteten auf sie ... und auf ihre Oma, die bereits lächelnd im Sessel saß.

„Cool“, Sophie hauchte das Wort ganz leise, während ihre Blicke gebannt auf dem Baum und den Präsenten ruhten. „Packt ganz in Ruhe aus, es sind überall eure Namen drauf. Wir haben immer ganz genau hingehört, wenn einer von euch mal gesagt hat: Ich hätte sooooo gerne ...“

Der Vater musste gerührt schlucken, als er sah, wie ihre beiden Kinder vor Überraschung und Freude rot anliefen: Sie hatten daran gezweifelt, dass ihre Eltern ihre Wünsche bemerken, ja, diese sogar erfüllen würden.

Nach der Bescherung folgte das gemeinsame Weihnachts­essen mit Omas leckerem Braten, und bei ‚Tabu‘, ‚Mensch-Ärger-Dich-Nicht‘ und viel Gelächter verflog die Zeit bis zur Mitternachtsmesse im Nu.

Gemeinsam fuhren alle zur Kirche. Und irgendwann, wäh­rend des Gottesdienstes schauten sich Karin und Michael mit einem glücklichen Lächeln an: Es war noch nicht zu spät gewesen, auch nicht für sie.