Jeden Tag in der Vorweihnachtszeit (1. bis 24.12.2023)

veröffentlichen wir hier auf dieser Homepage und bei Facebook eine Weihnachtsgeschichte.

 

Die nachfolgende Geschichte wurde anlässlich eines Kurzgeschichten-Wettbewerbs des NOEL-Verlages im Jahr 2019 im Siegerbuch veröffentlicht.

 

Der Weihnachtstraum

 

Renate Irina Eidenhardt-Ach

 

Das Feuer im Kamin brennt lichterloh. Paul sitzt mit heißen, roten Backen im Wohnzimmersessel und starrt in die lodernden Flammen. Das trockene Holz knackt und kracht. Ein wohliges Gefühl breitet sich in ihm aus. Es ist so ge­mütlich hier in der warmen Stube. Er lugt zu seiner Mutter hinüber, die ganz vertieft an einem kleinen Söck­chen strickt. Der zehnjährige Junge kuschelt sich in seine Decke. Bald ist Weihnachten. Nur noch zwei Türchen seines Adventskalen­ders sind verschlossen.

So richtig freuen kann sich Paul noch nicht auf das Fest. Seine Oma ist vor vier Wochen gestorben und das macht ihn immer noch sehr traurig. So traurig, dass er keine Lust mehr auf Schule hat, keine Lust in seinem Fußballverein zu spielen oder ein paar Takte auf seinem sonst so geliebten Schlag­zeug. Er hört einmal die Mama sagen: „Bert, das wird schon wieder. Lass ihn mal. Die Zeit geht vorüber.“ Und sein Vater meint: „Aber vier Wochen? Wie lange sollen wir denn noch zusehen, wie seine Leistungen abfallen?“

Aber so sehr ihn auch Mama und Papa auffordern, wieder aktiver zu werden, umso mehr fällt er in das große Loch. Paul vermisst seine Oma sehr.

Immer wieder kommen Momente, wo er ganz besonders an Oma denken muss. Sie hatten so viel Spaß miteinander. Oma hat ihn immer zum Lachen gebracht, aber jetzt hat er das Gefühl, er hätte gar nichts mehr zu lachen. Er fühlt sich so allein, zurückgelassen, einfach einsam.

Bei Oma gab es immer Schokolade und Bonbons. Sie hatte ein tolles Versteck in ihrem alten Küchenschrank und Oma hatte nie vergessen, die Vorräte zu füllen, wenn Paul sie be­suchen kam. Oma hatte ihm sogar manchmal in Mathe ge­holfen und ihm die richtigen Zahlen eingeflüstert. Und jeden Mittwoch holte ihn Oma von der Schule ab und sie haben zusammen Pfannkuchen gebacken, mindestens drei­ßig.

Paul schnappt sich seinen Notizblock vom Hocker und be­ginnt gedankenverloren mit dem Bleistift zu kritzeln. Wild kurvt er mit seinem Stift auf dem Zettel herum. Kreise, Ecken, Spitzen, Türme, Dächer und Häuser. Alles Mögliche entsteht auf diesem Blatt. Kritzel Kritzel Kritzel. Er ist so in Gedanken versunken, dass er gar nicht bemerkt, als seine Mutter ein Stück Holz im Kamin nachlegt. Die Zeit scheint für ihn stillzustehen. Kritzel Kritzel Kritzel. Auf einmal stellt Paul fest, dass er so ganz nebenbei einen kleinen Engel gemalt hat. Einen wunderschönen, kleinen Engel mit richtig großen, weiten Flügeln und einem bezau­bernden wallenden Kleidchen. Toll sieht der aus! Und noch bevor Paul es über­haupt realisieren kann, springt plötzlich der kleine Engel aus dem Papierblock heraus und stellt sich vor Paul auf die Decke.

„Na endlich“, mault der kleine Engel. „Ich dachte schon, ich komme nie aus dem Blatt heraus!“

Verdutzt starrt Paul auf das kleine Etwas.

„Was ist? Was glotzt du so? Du kennst mich doch!“, sagt der Engel selbstbewusst.

„Ich? Dich kennen? Woher denn?“, fragt Paul zögernd. „Wer bist du?“

„Oh Entschuldigung. Darf ich mich kurz vorstellen? Ich bin Jamin, dein Schutzengel. Du bist aber vergesslich. Ich habe dich beim Sturz von der Rutsche festgehalten, dein Wasser­glas aufgefangen und deine Schuhe aus dem Weg gestoßen, um nur mal ein paar Kleinigkeiten aufzuzählen. Aber das hast du wohl schon wieder verdrängt.“

„Mein Schutzengel?“ Paul verzieht ungläubig sein Gesicht.

„Ja. Ich bin schon dein ganzes Leben bei dir. Du hast mich bloß noch nie gesehen. Ich fliege immer neben dir und pass auf dich auf. Wobei man bei dir schon ziemlich viel Arbeit hat.“

Der Schutzengel gähnt herzhaft und verschränkt erwar­tungs­voll seine Arme.

„Du bist immer bei mir? Überall? Am Spielplatz? In der Schule? Zu Hause? Auf dem Klo?“

„Genau so ist es. Und jetzt bin ich froh, dass du mich end­lich gemalt hast. Wurde ja auch Zeit. Ich habe ein ernstes Wört­chen mit dir zu reden.“

Erstaunt sieht Paul den kleinen Kerl an, der gerade wild mit den Flügeln schlägt.

„Ein ernstes Wörtchen?“

„Ja. So ist es. Seit deine Oma gestorben ist, bist du nur noch traurig. Du spielst keinen Fußball mehr, du bringst deine Matheaufgaben durcheinander und du besuchst nicht mal mehr deinen besten Freund Manuel. Glaubst du, deiner Oma wird das gefallen?“

„Ich weiß nicht, aber ich vermisse sie einfach so sehr. Ich würde sie so gerne besuchen und sehen, ob es ihr gutgeht im Himmel.“

„Kein Problem. Kannst du haben.“

„Wie? Wie meinst du das?“

„Na, wir fliegen in den Himmel hinauf und besuchen deine Oma.“

„Im Ernst? Wie soll denn das gehen? Mit dem Flugzeug?“

„Quatsch. Du hast ja wirklich überhaupt keine Ahnung. Mit Flügeln natürlich.“

„Das ist doch ein Scherz?“

„Schutzengel scherzen nicht, Paul. Ich werde dir diesen Wunsch erfüllen. Schließlich ist in zwei Tagen Weihnach­ten. Ich will, dass du wieder auf andere Gedanken kommst.“

Und noch ehe sich Paul anders entscheiden könnte, packt Jamin den Jungen an der Hand und zieht ihn zu sich.

Paul merkt plötzlich, wie er leichter und immer leichter wird, wie schwerelos er sich auf einmal fühlt. Er spürt, wie er in die Luft gehoben wird und schließlich fliegt.

Rechts und links hat er plötzlich kleine Flügel auf dem Rücken, die er ganz sanft auf- und abbewegen kann. Jamin zieht ihn immer weiter und weiter zu sich hin. Paul hat komischerweise überhaupt keine Angst. Jamin fliegt mit Paul an der Hand Richtung Kamin. Aber zu aller Über­raschung, Paul merkt gar nichts von der glühenden Hitze. Er fliegt mit seinem Schutzengel kurzerhand durch die lodernden Flam­men, durch den verrußten Kamin höher und immer höher. Es kommt ihm wie Sekunden vor, so schnell sind die beiden unterwegs. Jetzt kann er den blauen Himmel sehen und draußen angekommen, auf dem ver­schnei­ten Hausdach, kann Paul sogar im Garten seinen Schneemann und seine Schneeburg entdecken. Da hinten steht sogar noch sein brauner Schlitten.

Paul wundert sich, dass er gar nicht friert. Es ist ja De­zember. Mama würde schimpfen, wenn er ohne Jacke und Mütze draußen spielen wollte. Aber er hat keine Zeit nach­zu­denken. Er fliegt schließlich in den Himmel.

Jamin zieht ihn immer weiter und weiter den weißen Schnee­wolken entgegen. Paul fühlt sich sicher und gebor­gen an der Hand seines Schutzengels. Er vertraut ihm und er freut sich so sehr, endlich seine Oma zu treffen.

Er kann gar nicht abschätzen, wie lange dieser Flug dauert, aber plötzlich schweben die beiden durch ein helles, fast grelles Licht. Ein langer Schlauch, der nur aus strahlendem Licht besteht. Alles fühlt sich plötzlich so herrlich warm an, ganz komisch, es ist doch Winter. Es ist so ruhig und fried­lich hier. Helle Strahlen weisen den beiden den Weg. Sie werden magisch angezogen von der wohligen Wärme.

Als er endlich wieder Boden unter den Füßen spürt, steht er auf einer weichen, weißen Wolke. Paul sieht sich um, und bemerkt erst jetzt, dass er nicht alleine ist. Überall schweben weiße Engel mit strahlenden, glitzernden Klei­dern umher. Einige spielen Fangen, andere hüpfen herum oder schlagen Purzelbäume in der Luft. Ein Engel strahlt fröhlicher als der andere. Sie sehen richtig glücklich aus. Da kommt plötzlich ein riesengroßer, gigantischer Engel auf die beiden zuge­flogen. Paul merkt, dass der Engel nicht sprechen kann und deshalb flüstert er zu Jamin: „Was hat er gesagt? Ich verstehe kein einziges Wort.“

„Das kannst du auch nicht, du Dummkopf. Hier oben im Himmel brauchen wir keine Worte. Wir können uns rein mit unseren Gedanken unterhalten. Sprechen kostet viel zu viel Kraft. Hier gibt es nur Gedanken und Gefühle.“

„Aha. Und was hat er gefühlt?“

„Ach, du meinst Engel Fabius? Er wusste schon, dass wir deine Oma besuchen wollen. Er hat gesagt, sie ist auf Wolke fünfzehn.“

Paul kann sich fast ein Lachen nicht verkneifen. Seine Oma sitzt auf Wolke fünfzehn?

„Wenn wir wollen, dann zeigt uns Engel Fabius ein biss­chen den Himmel! Hast du Lust?“

„Und ob, natürlich!“

Paul nickt den beiden Engeln zu, in der Hoffnung, Engel Fabius versteht ihn.

Die drei machen sich auf den Weg und fliegen jetzt zu­sammen noch ein Stückchen weiter hinauf in die weiße Wol­kenpracht. Seine Hand ist irgendwie klatschnass vor Auf­regung, als er sich an Engel Jamin festhält. Paul traut seinen Augen nicht. Da kommen unglaublich viele Kinder auf ihn zu. Alle tragen wunderschöne, weiße Kleider. Sie sehen fast alle gleich aus. Paul spürt, wie glücklich diese Kinder sind. Sie lachen und scherzen und springen fröhlich herum.

„Wo sind wir hier, Jamin?“

Engel Fabius kann Pauls Gedanken lesen und gibt Jamin ein Zeichen.

„Das sind kleine Kinderseelen. Sie warten jeden Tag darauf, dass Gott sie auserwählt und auf die Erde schickt, um ge­boren zu werden.“

Paul sieht ihn erstaunt an.

„Sie suchen mit Gott ihre Eltern aus und werden dann ge­boren?“

„Genau so. Das hast du ja schließlich auch gemacht. Du kannst dich nur nicht mehr daran erinnern.“

Paul bekommt seinen Mund nicht mehr zu.

Schutzengel Jamin und er merken plötzlich, dass Engel Fabius schon ziemlich vorausgeeilt ist. Schnell schnappt sich Jamin Pauls Hand und sie fliegen geschwind hinterher. Sie schweben weiter und weiter durch die weiße Wolken­pracht. Von weitem kann Paul eine wunderschöne Musik hören. Er fühlt sich so richtig friedlich und ruhig. Paul hat überhaupt keine Angst. Er vertraut seinem kleinen Freund.

Endlich kommen die drei bei Wolke fünfzehn an. Und da entdeckt er auch schon seine geliebte Oma. Paul kann nicht mehr atmen, er ist so aufgeregt. Er reibt sich erst mal die Augen. Aber als er wieder vorsichtig blinzelt, sieht er erneut seine Oma. Er kann es nicht glauben, aber sie sitzt mit vielen anderen alten Menschen auf der Wolke und spielt Karten. Nein, wirklich. Das wird ihm niemand abkaufen. Die Leute wirken untereinander total vertraut. Sie kom­muni­zieren nur in Gedanken miteinander und lächeln.

Seine Oma liebte auf der Erde das Kartenspielen über alles. Jeder musste mit Oma zocken. Und niemand konnte die Oma jemals besiegen. Aber dass sie hier im Himmel …

Auf einmal treffen sich ihre Blicke. Paul gibt es einen unangenehmen Stich. Er ist gerade wie gelähmt. Da lächelt Oma ihn an und wirft ihm einen Handkuss entgegen.

„Was sagt sie?“

Jamin flüstert leise zu Paul.

„Deine Oma freut sich dich zu sehen. Sie sagt, es geht ihr sehr gut hier und sie ist in Gedanken immer bei dir. Du brauchst dir keine Sorgen machen und vor nichts Angst haben. Du sollst dein Leben genießen, es geht viel zu schnell vorbei. Sie ist jetzt glücklich, wieder bei ihren Freunden zu sein. Und jetzt sollst du aber wieder zurück auf die Erde, sie ist gerade am gewinnen.“

Paul nickt verständnisvoll und muss grinsen. Er greift die Hand von Engel Jamin, winkt kurz seiner Oma und gibt einen Handkuss zurück. Sie sieht wirklich glücklich aus. Mit diesem Bild vor seinen Augen und dem warmen Gefühl in seinem Bauch kehrt Paul seiner Oma den Rücken zu und sie fliegen den langen Weg zurück bis in den grellen Licht­strahl. Paul schwebt schwerelos im hellen Strom. Er dreht sich wirbelnd mit seinen Flügeln und lächelt selig.

Auf einmal bemerkt er eine Stimme. Wo kommt denn nur diese Stimme her?

„Paul? Paul? Wach auf.“

Mama kniet neben Paul vor dem Sessel und streichelt seinen schweißnassen Kopf.

„Paul? Aufwachen. Hast du Fieber?“

Sie sieht ihn sehr besorgt an. Der Junge gähnt herzhaft und streckt sich unter der Decke.

„Fieber? Nein bestimmt nicht. Ich hab voll Lust, Manuel anzurufen. Muss ihn mal fragen, ob er heute noch Zeit hat für eine Schneeballschlacht. Das Leben ist viel zu kurz, Mama.“

Seine Mutter sieht ihn mit offenem Mund überrascht an und schüttelt ungläubig den Kopf. „Was ist denn mit dir los?“

„Nichts. Mama. Mir geht es gut. Ich freue mich jetzt schon richtig auf Weihnachten!“

Bevor Paul aus dem Wohnzimmer rennt, wirft er noch ganz schnell seiner Mutter einen Handkuss zu.